Warum Work-Life-Balance neu gedacht werden sollte.

Es ist Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff Work-Life-Balance. Und ein Plädoyer für die Entdeckung der individuellen Energielieferanten. Denn Führungskräfte ticken anders.

Melanie eilt gehetzt in die Praxis herein, lässt sich auf das Sofa fallen und startet sofort mit einem Redeschwall, der offensichtlich rasch raus muss: „Entschuldigung noch mal, muss ich mich jetzt wirklich schuldig fühlen, und vielleicht noch ein schlechtes Gewissen haben?“ Oha, diese Coachingeinheit startet wieder einmal sehr dynamisch. „Wenn ich in mein Führungsmeeting reingehe und spontan erzähle, dass ich endlich wieder Urlaub von Kind, Mann und Haus habe und ich es jetzt voll super finde, mit voller Kraft und neuen Ideen wieder unserem Riesenprojekt zu widmen, dann kann ich auf diese Vorwurfsblicke echt verzichten. Ich arbeite nun mal gerne, warum soll ich meine Ambitionen verstecken?“


Florian, tags darauf auf dem gleichen Sofa sitzend: „Mein Bürgermeisteramt macht es nun mal notwendig, bei allen möglichen Veranstaltungen dabei zu sein, auch abends und an den Wochenenden. Warum macht mir meine Frau das Leben so schwer und pocht auf mehr gemeinsame Freizeitaktivitäten? Außerdem macht sie mir ein schlechtes Gewissen und meint, dass mir das alles zu viel wird! Aber ich will einen guten Job machen und mir taugt es, den Menschen zuzuhören und zu diskutieren. Ich habe so viele Ideen und will unbedingt meinen nachhaltigen Beitrag für die nächsten Generationen leisten.“


Es lässt sich unschwer heraushören, dass sich Melanie und Florian beim Balanceakt von Work und Life die gesellschaftliche und partnerschaftliche Erlaubnis für mehr Work wünschen. Und außerdem wünschen sie sich mehr Verständnis für ihren inneren Antrieb nach Visionen, Leistung, Produktivität und Erfolg.

 

Life is life? Und Work ist das Gegenteil?

Der Begriff „Work-Life-Balance“ tauchte erstmals vor über vierzig Jahren in der Literatur auf. Die Idee dahinter war, dass ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit notwendig ist, um ein erfülltes und gesundes Leben zu führen. Denn bei gestörtem Gleichgewicht treten unangenehme Symptome von Stress auf, die im Extremfall zu einem Burn-out führen.

Seitdem versuchen Personalabteilungen mit immer größerem Aufwand, ihren MitarbeiterInnen auf allen Ebenen eine gesunde Balance zwischen den stressbetonten Arbeitsphasen und dem regenerativen Leben zu ermöglichen. Über die Jahre hinweg wurde das Angebot immer größer: Gleitzeit, Teilzeit, Alterspension, Home Office, digitale Nomadenzeit, Sabbatical Year etc. Das Ziel dahinter: eine Belegschaft mit mental sowie körperlich fitten, ausgeglichenen und zufriedenen MitarbeiterInnen, deren ungeplante Ausfallszeiten möglichst gering sind. Die Menschen sollen nach einer Arbeitswoche einfach noch genug Energie haben. Sei es für eine Grillfeier mit der Familie, dem Radausflug mit Freundinnen, dem Kletterkurs in den Alpen, dem Musikfestival mit Zeltabenteuer an einem See oder lesen, Gartenpflege, Motorrad zerlegen. Die Ideen und Ambitionen für ein Leben fernab unserer Arbeitsstätte sind vielfältigst.


Ein unglücklich gewähltes Begriffsbild

Wir sind mit dem Ausdruck Work-Life-Balance sehr vertraut. Kein Mensch sieht uns verdutzt an, wenn wir ihn gebrauchen. Jeder weiß, was gemeint ist. Es braucht unbedingt mal einen kritischen Blick auf diese Definition. Hier die Arbeit und dort das Leben? Ist mit Arbeit lediglich die bezahlte
Erwerbsarbeit gemeint? Und sind unbezahlte Tätigkeiten im Haushalt und für die Kinder nicht Work? Sondern Life? Für mich passt das Gegensatzpaar, das angeblich ausbalanciert gehört, einfach nicht zusammen.
Warum sprechen wir nicht von einer Balance von Anspannung und Regeneration. Oder einer Balance von Tatkraft und Entspannung. Oder einer Balance von Unternehmung und Ausspannung.


Führungskräfte meinen: Work IS Life!

Kehren wir zurück zu den Melanies und Florians, zu jenen Menschen, die aus ihrer Arbeit einen riesigen Energiegewinn ziehen. Die mit leuchtenden Augen vor mir sitzen und mir berichten, was sie in den letzten Wochen alles weitergebracht haben und wie sie ihren Zielen nähergekommen sind. Die schon in der Dusche ihren Arbeitstag mental durchgehen. Oder während des Joggens einen Task in ihr Handy diktieren, weil sie ihren abendlichen Dauerlauf wie immer dafür nützen wollen, etwas durchzudenken und Lösungen zu entwickeln.


Führungskräfte tun sich manchmal richtig schwer damit, ihrer Umgebung klarzumachen, dass es ihnen ursächlich Freude macht, etwas vorwärts zu bringen, etwas Neues entstehen zu lassen, sich selbst zu fordern oder etwas auszuprobieren und zu schauen, ob es funktioniert. Menschen, die dermaßen in ihrer offensichtlichen Berufung aufgehen, erleben dabei Glücksgefühle, die sie in die höchsten Höhen katapultieren. Das negativ konnotierte Wort von Arbeit im Sinne von Mühsal kennen sie nicht. In deren Mindset arbeiten sie eigentlich gar nicht, sondern sie verfolgen eine Mission, sie erreichen Ziele, sie transformieren eine Idee in die Realität. In deren Augen gilt: Arbeit IST Leben, Work IS Life. Was gilt es da auszubalancieren?


Lebenspartner auf der Suche nach gegenseitigem Verständnis

Florian entwickelte in der Coachingsitzung eine neue Kommunikationsstrategie und hat sich dem krisenbesetzten Dauerbrenner von einer neuen Seite genähert. Er hat aufgehört, sich zu rechtfertigen und sachliche Begründungen für sein hohes Investment in sein politisches Amt zu liefern. Beim ehelichen Duell von Vorwurf und Rechtfertigung ist ein Teilnehmer verloren gegangen.
Stattdessen hat er seine Frau gebeten, sich Antworten auf folgende Fragen zu überlegen:


• Was erfüllt DICH in deinem Leben?
• Wo beziehst DU Energie?
• Was erweckt DEINE Lebensgeister?


Marie reagierte wunderbar auf die neue Gesprächskultur und erbat sich ausreichend Nachdenkzeit. An einem Sonntagabend präsentierte sie eine ordentliche, wohlüberlegte Liste samt Wertigkeiten. „Ganz die Marie, die macht keine halben Sachen,“ berichtete Florian stolz. Die wunderbare Sache, die sich daraufhin ergab, war folgende: Das Paar saß bildlich gesprochen gemeinsam in einem Boot und betrachtete ihre jeweiligen Energielieferanten. Es gab Gemeinsamkeiten, es gab Unterschiede und es gab vor allem jede Menge Gesprächsstoff darüber, wie individuell ein menschlicher Energiehaushalt funktioniert. Von da weg hatten die beiden ein Thema, über das sie immer wieder gerne sprachen, wo jeder auf seine Entdeckungsreise ging und gerne Erfahrungen austauschten. Die gemeinsamen Zeiten der beiden wurde friedlicher, lust- und humorvoller.


Energiesäulen weisen die Richtung

Nun zu Melanie. Nachdem sie mal „Dampf“ abgelassen hatte und gleich wieder nach Lösungen in allen Richtungen suchte, machte ich sie mit dem Säulenmodell vertraut, wo sie ihre Energiesäulen überprüfen konnte. (Das Modell und die Vorgangsweise sind ausführlich in meinem Buch „Sei den Kraftwerk“ beschrieben.) Melanie wurde klar, ihr Beruf stellt aktuell einen wesentlichen Energielieferanten dar und sie wollte dieser Säule bewusst auch weiterhin einen prominenten Platz einräumen. Bei der separaten Betrachtung der Tochter stellte sie fest, dass auch die Zeit mit Anna enorm viel Energie brachte. Mit dem Aufzeichnen der weiteren Säulen wurde Melanie sofort wieder
selbstbewusst und energiegeladen schon während des Prozesses. Die Erkenntnis, dass sie jede Lebenssäule mit einer riesigen Bereicherung erlebte, bestätigte Melanie in Ihrem Lebensmodell. Es gibt keinerlei Grund, sich schlecht zu fühlen. Melanie fühlt sich auch bestätigt als liebevolle und engagierte Mutter. Die Qualitätszeit mit ihrer Anna genießt sie ebenso, wie jede Zeit, die sie bewusst managt. Ihr ist allerdings schon klar, dass sie sich die befremdenden Blicke erspart hätte, wenn ihr Statement wohldosierter und überlegter ausgefallen wäre.


Job als Energielieferant – wo stehen Sie?

Wahrscheinlich wollen Sie nun auch für sich selbst zu einer Einschätzung finden, welchen Stellenwert Ihr Beruf einnimmt, und ob dieser ein Energielieferant für Sie ist. Deshalb zum Abschluss noch zwei Reflexionsfragen und ein Experiment für Sie, geschätzter Leserkreis, um festzustellen, ob und in welchem Ausmaß Ihre berufliche Tätigkeit ein Energiespender ist.


Zwei Fragen …
• Welche Gedanken melden sich, wenn Sie am Morgen an den bevorstehenden Arbeitstag denken und wie würden Sie diese bewerten auf einer Skala von 0 bis 10 (0 wäre schlecht bis 10 ist perfekt voller Tatendrang und Energie)
• Wie fühlen Sie sich abends auf dem Nachhauseweg auf einer Skala von 0 bis 10? Vollkommen erschöpft und gerädert, oder angenehm müde und vielleicht sogar noch energievoll für Anderes?


… und ein Experiment.

Sie schließen die Augen und denken an Ihre Arbeit. Sie stellen sich die Frage, wieviel Energie Ihnen Ihre Tätigkeit liefert. Nun zeichnen Sie mit Ihrem ganzen Arm eine Säule in die Luft. Wie hoch wird die Säule?
Nun umgekehrt: Sie stellen sich die Frage, wieviel Energie Ihnen Ihre Tätigkeit raubt. Sie zeichnen wieder eine Säule in die Luft. Wie hoch ist sie im Gegensatz zur ersten Säule geworden?


Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Ihre Zeichnung in der Luft in etwa so ausgefallen ist:

Energiebilanz

rot liefert
blau raubt

Energiebilanz

Und eher nicht so: 

rot liefert
blau raubt

Wer seine Stärken kennt und einsetzt, und wer seiner Leidenschaft folgt, zählt zu den Energiegewinnern im Leben auf allen Ebenen.